Ein seltener Fall von autosomal-rezessiver Muskelerkrankung

Prof. Dr. Horst Hameister
Erst die Familienanamnese und die Gen-Panel-Untersuchung brachten – nach zwei Muskelbiopsien – endlich Klarheit für den Patient und seine Familie.
Von einem niedergelassenen Neurologen wurde uns die Blutprobe eines 65-jährigen Patienten zugeschickt, der sich bisher an verschiedenen Stellen wegen einer Muskelerkrankung zur Diagnostik vorgestellt hatte. Jetzt wollten seine zwei Töchter (21 und 24 Jahre alt) für ihre eigene Familienplanung Gewissheit über eine mögliche Vererbbarkeit bekommen. Bei dem Patienten war erstmals im Alter von ca. 18 Jahren ein schlurfender Gang aufgefallen. Mit 21 Jahren wurde er ausführlich in einer Spezialklinik neurologisch untersucht und eine beginnende symmetrische Myopathie der Oberschenkel mit beidseitigen positiven Trendelenburg-Zeichen (Abkippen des Beckens beim Gehen) festgestellt. Die CK-Werte lagen zwischen 800 – 1400 U/l. Eine Muskelbiopsie brachte als Ergebnis: „nicht ganz typisch für Muskeldystrophie".

 

 

 

 

 

Etwa 10 Jahre später machte sich auch eine Beeinträchtigung der Oberarm- und Schultermuskulatur – mit Ausbildung der typischen Scapulae alatae beim Armhebeversuch – bemerkbar. Eine zweite Muskelbiopsie wurde 1988 an einer weiteren Universitätsklinik entnommen. Jetzt wurde eine dystrophische Myopathie mit „hochgradigen interstitiellen Umbauvorgängen und regressiven Faserveränderungen" diagnostiziert. Dieses Bild spricht für eine Fazio-scapulo-humerale Dystrophie, FSHD, oder eine Form von Gliedergürtelmuskeldystrophie (limb-girdle muscular dystrophy, LMGD). Da die LGMD sich schon damals als genetisch außerordentlich heterogen darstellte, wurde keine weitere Diagnostik veranlasst. Im Jahr 2009 erlitt der Patient einen Oberschenkelhalsbruch links und ist seitdem an den Rollstuhl gebunden. Jetzt bestehen eine ausgeprägte Skoliose und Schulterschiefstand – ohne fremde Hilfe ist der Patient nicht mehr geh- oder stehfähig. Die Oberarmelevation ist nur bis ca. 15-20 Grad möglich, die mimische Muskulatur nicht beeinträchtigt, Pfeifen möglich. Es besteht keine kardiologische Beeinträchtigung, jedoch schläft der Patient aufgrund von Atemschwierigkeiten unruhig. Familienanamnestisch ist eine gesunde Schwester bekannt, die Eltern waren betreffend Muskelerkrankungen unauffällig, der Vater ist mit 76 Jahren verstorben. Eine Schwester des Großvaters mütterlicherseits war mit einem Mann aus demselben kleinen Dorf verheiratet und hatte zwei Kinder mit einer unbekannten Muskelerkrankung (siehe Stammbaum).

 

Abbildung 1: Stammbaum der im Text besprochnenen Familie

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Kongenitale Muskeldystrophien: Eine sehr heterogene Erkrankungsgruppe.
Dr. Marius Kuhn, Dr. Dieter Gläser in Zusammenarbeit mit Prof. Wolfgang Müller-Felber und Dr. Katharina Vill